Europa scheitert an der Rundung des Globus

Europa scheitert an der Rundung des Globus

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Europa scheitert an der Rundung des Globus

Der Mensch ist darauf angelegt, „auf Sicht“ zu leben

Der Mensch scheitert an einem ganz einfachen Fakt seiner eigenen Bio-Psychologie: der Mensch braucht überschaubare Umgebungen.

Das Gehirn neigt dazu, Informationen, die nicht jeden Tag gebraucht werden, im “Untergrund” zu verstauen und mit der Zeit für weniger wichtig zu nehmen. Der Mensch ist ein Steppentier. Seine Wahrnehmung reicht etwa soweit, wie seine Urahnen im Laufe eines Tages auf beiden Beinen zu laufen imstande waren. Das entsprach etwa dem Aktionsradius eines Stammes, eines Dorfes und seiner Einwohner. Schon die Eroberung eines anderen Kontinents nahm er, Ironie der Geschichte, als Eroberung einer “Neuen Welt” wahr.

Menschen der Neuzeit sind mit den durch sie geschaffenen, internationalen Strukturen überfordert. Das Internet hat diese Entwicklung noch einmal um den kritischen Faktor Zeit angetrieben. Früher war zwischen dem Erscheinen eines aktuellen Ereignisses noch so viel Zeit, dass ein Redakteur an seinem Schreibtisch die Fotos auswerten, Rückfragen halten und einen geordneten Bericht schreiben konnte. Heute eilt das Internet im Sekundentakt der Vermittlung geordneter, geprüfter Informationen voraus. Das Ergebnis sind ungeordnete, also chaotische Informationsverläufe. Und deren Folge sind ebenso chaotische Hysterie-Bewegungen in der Bevölkerung, die ihre Gefährlichkeit gerade aus einer Mischung aus überprüfbaren Wahrheiten und phantasierten Ängsten und Unwahrheiten entwickeln. Die Quersumme dessen sind Halbwahrheiten, die – wenn sie in den Medien erscheinen – von kritischen Bürgern oft verächtlich als tendenziöser “Qualitätsjournalismus” gerügt werden.

In diesem Spannungsfeld verstehen sich immer mehr Berichterstatter als “Vermittler” in sozialen und politischen Prozessen. Damit verliert der Berichtetstatter seine Distanz und Neutralität. Es kommt zur Tendenz-Berichterstattung. Das wiederum treibt die Spirale aus Verunsicherung und Entsolidarisierung der Bevölkerung erst richtig an. Und damit haben wir genau diese Situation, die heute vorherrscht.
Es braucht nicht viel Phantasie zur Entkenntnis, dass solches immer die Begleit-Dissonanz zu einer Katastrophe ist.

Deutschland scheint in vielen essentiellen Fragen schon mit dem System des Föderalismus überfordert zu sein. Auf einer Fläche, die auf dem Globus gerade einer Daumenkuppe entspricht, gelingt es binnen Jahrzehnten nicht, einheitlich anerkannte Schulbildungsabschlüsse zu gewährleisten. Die EU macht Regionen und Strukturen gleich, die allein schon aus unabwendbaren geografischen und klimatischen Bedingungen heraus nicht gleich sind. Der EU liegt ihr eigener, innerer Verdauungsprozess dessen, was sie sich auf den Teller gepackt hat, noch schwer im Magen. Jetzt kommen von außen neue Probleme – und die EU scheitert. Es droht ein Rückfall in scheinbar veraltete Strukturen. Das wundert nicht, denn es wäre ein Rückfall in die Strukturen, die der Biologie des Menschen wesentlich mehr entsprächen: ein Rückfall in den Zustand der vielen, eher überschaubaren europäischen Kleinheiten und Individualismen.

Ob es eine politische Antwort auf diese Fragen gibt, wird man sehen. Aber es gibt eine persönliche Antwort: sie ist einfach und radikal, aber jeder kann sie dennoch ein Stück für sich selbst umsetzen, um in alledem wenigstens zeitweise seinen Seelenfrieden zu wahren. Die Lösung heißt Entschleunigung und Herstellen überschaubarer Aktions-, Handlungs- und Ereignisfelder. Was du nicht beherrscht, da lass die Finger von. Setze dir für die Jagd kein Ziel, von dem du nicht bis zum Einbruch der Dämmerung zurückkehren kannst. In dieser tatsächlich prähistorisch anmutenden Sicht liegt auch die Weisheit im sinnvollen Umgang mit der Zeit. Ziel und aufgewendete Zeit müssen im angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Machst du Beute an einem zu fernen Ziel, dann kommst du mit dem Ertrag in die Dunkelheit, und die wilden Tiere werden die Nacht nutzen, um sie dir abzujagen.

Vor diesem Hintergrund will einem der angeblich Machiavelli’sche Grundsatz “Divide et impera” in einem ganz anderen Licht erscheinen: teile dir deine Ziele ein – und sei Herr über das, was du dir vorgenommen hast.

© Jörg Rehmann

Dieser Beitrag wurde am 20.9.2015 erstmals veröffentlicht. Abdruck nur mit Genehmigung des Autors gegen Honorar und Belegexemplar


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Jörg Rehmann

Journalist - Autor

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