Die RAF und das Wiesbadener Westend

Die RAF und das Wiesbadener Westend

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Die RAF im Westend

Wie ich als Kind und Jugendlicher die Zeit des RAF-Terrorismus in Wiesbaden erlebt habe.
Eine Spurensuche.

Eine Webreportage von Jörg Rehmann © 2016 / 2024

Zuletzt aktualisiert am 27.2.2024

Lesezeit: ca. 10 Minuten

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Seit der Jahrhundertwende galt Wiesbaden mit seinen historischen Villen als die Stadt der reichen Pensionäre. Doch nach der Studentenrevolte, den wilden 70er und 80er Jahren bildete sich hinter den Jugenstilfassaden eine linke Subkultur…

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Haus Weißenburgstraße 12 / Ecke Emser Straße:hier prangte bis vor kurzem noch ein Graffiti der linken RAF-Sympathisantenszene mit dem Text ‘Zusammel…’. Damit gemeint dürfte die Forderung nach Zusammenlegung der RAF-Gefangenen gewesen sein. Allerdings wurde der Autor wohl gestört, so dass das Graffiti unvollständig zurückblieb. Das Graffiti entstand Mitte der 80er Jahre und war bis etwa zum Jahr 2014 zu sehen.

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Das Wiesbadener Westend wurde in jener Zeit zum Sammelpunkt linker Gruppen. Was heute gesellschaftlich akzeptiert scheint, zeigte damals eher die Formen einer verborgenen Untergrundkultur. Noch heute ist der Stadtteil rund um die Wellritzstraße mit ihren zahlreichen türkischen Läden ein schillernder, multikultureller Stadtteil.

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Mit der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg steigern sich die bis dahin friedlichen Proteste gegen den Vietnamkrieg und für eine gerechtere Welt zu gewaltsamen Aktionen. Irgendwann auf diesem Weg fassten linke Gruppen den Entschluss, ihren Protest gewaltsam durch Bildung einer ‘Stadtguerilla’ fortzusetzen.

Nicht wenige Häuser des Wiesbadener Westends sind prachtvoll vom Jugendstil geprägt. In den düsteren Zeiten der RAF waren viele Wohnungen hier jedoch nur in mäßigem Renovierungszustand: zu hohe Räume, zu hohe Heizkosten, keine Aufzüge. Das könnte dazu beigetragen haben, dass mancher Vermieter nicht so genau bei der Wahl seiner Mieter hinsah…

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Alte Pracht und dunkle Hintergründe...

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Ein Haus in der Wiesbadener Wellritzstraße. Zwischen Jugendstil und urbaner Szenekultur sollte sich an dieser Stelle eines der vorerst letzten Kapitel der RAF abspielen.

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Ein Haus in der Wellritzstraße...

Haus Wellritzstraße 37.
Hier waren 1984 Birgit Hogefeld (28) mit ihrem Freund Wolfgang Grams (31) abgetaucht.
Sie gehörten damals zum RAF-Sympathisantenkreis. Sie besuchten Gerichtsverhandlungen gegen die Terroristen, organisierten linke Demonstrationen.
Später beschlossen sie, selbst in den ‘bewaffneten Kampf’ einzusteigen.
Die Antwort der RAF auf die verkrusteten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse war die Gründung einer ‘Stadtguerilla’.
Wolfgang Grams kam 1993 unter umstrittenen Umständen bei einem Anti-Terror-Einsatz der GSG9 in Bad Kleinen zu Tode.
Laut gesicherter Gutachten wurde er zunächst angeschossen, soll sich jedoch dann durch einen Schuss aus seiner Waffe selbst getötet haben.
Linke Mythen unterstellen eine gezielte Hinrichtung durch einen GSG9-Beamten.

Bad Kleinen 1993: Der Staat rechnet mit Linksextremismus ab

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Der Anti-Terror-Einsatz in Bad Kleinen hinterlässt aus Sicht vieler Beobachter nur Verlierer…

Nach Anti-Terror-Einsatz: nur Verlierer

In der Disco ‘Western Saloon’ in der Dotzheimer Str. 19 in Wiesbaden bandelte die RAF-Terroristin Birgit Hogefeld in der Nacht zum 08.08.1985 mit dem amerikanischen Soldaten Edward Pimental an, um in den Besitz seines Ausweises für die ‘Rhein-Main Air Base’ zu gelangen.
Pimental war zusammen mit drei Bekannten von der Kaserne ‘Camp Pieri’ in Wiesbaden mit dem Bus in die Innenstadt gefahren. Der US-Soldat Edward Pimental wurde am in der Nacht vom 07. auf den 08.08.1985 im Stadtwald von Wiesbaden von unbekannten Tätern der RAF erschossen. Der Mord diente dazu, über seine Zugangsberechtigung zur ‘Rhein-Main Air Base’ einen Sprengstoffanschlag am selben Tag zu verüben.
Gefunden wurde seine Leiche am nächsten Morgen an einem Waldweg im Wiesbadener Stadtwald zwischen Hofgut Adamstal und Platter Straße.

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Disco 'Estern Saloon'

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Die Aktivität der RAF-Terroristen lief in drei Generationen ab. Über lange Jahre gehörten Plakate mit den Gesuchten zum Alltagsbild deutscher Städte.
Nach der Inhaftierung der Anführer Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin u.a. setzte sich der Terror dennoch auf anderen Ebenen fort.

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Nachdem die Staatsgewalt gegen die verheerenden Terroranschläge erstarkt war und zurückschlug, nahm sich das inhaftierte Terrorquartett um den Anführer Andreas Baader in der Haft das Leben. Trotz Hochsicherheitsverwahrung waren Waffen in die Zellen der Gefangenen gelangt.

Noch heute ist das Wiesbadener Westend Zentrum zahlreicher linker Protestinitiativen.
So manche hehre Ideologie hat hier eine ‘Heimat’ und eifrige Engagierte gefunden. Nach wie vor ist eine Gruppe Alt-Terroristen in Deutschland unterwegs, begeht gewalttätige Raubzüge, um den Lebensunterhalt ihrer Beteiligten zu sichern.

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Linker Nährboden...

Alle Teile des Westends sind durchzogen von einer Sprayer-Kryptografie, deren Bedeutung sich dem gewöhnlichen Betrachter entzieht. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass es hier Parallelwelten gibt, welche die Reste bürgerlicher Gesellschaft im Wiesbadener Westend allmählich unterwandern.

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Die Suche nach Wohnraum, das Leben in Hinterhöfen und sozialen Nischen ist charakteristisch für das Stadtgebiet mit den vielen Altbauten.

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Wohnquartier Westend

Das Wiesbadener Westend verfügt über zahlreiche Szenekneipen. Das ‘Kaffee Klatsch’ in der Marcobrunner Straße ist schon seit Beginn der 80er Jahre Treffpunkt der linken Szene.

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Kaffee Klatsch

Auch das Kaffee Klatsch war Schauplatz der RAF-Protagonisten. Zu Zeiten des RAF-Terrorismus war der V-Mann Klaus Steinmetz auf die Terroristen Brigitte Hogefeld und Wolfgang Grams angesetzt worden. Letztlich führte sein Einsatz zum Fahndungserfolg gegen die Terroristen. Doch Steinmetz galt selbst als schillernde Figur. Anhand seines zwielichtigen Lebens musste sich die deutsche Justiz exemplarisch mit der Frage auseinandersetzen, ob ein V-Mann auch selbst Straftaten begehen darf, um als vermeintliches Mitglied der Terroristen nicht enttarnt zu werden. In jenem ‘Kaffee Klatsch’ jobbte Klaus Steinmetz damals zeitweise, bis er von der Justiz angeklagt, später aber weitestgehend entlastet wurde.

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Kaffee Klatsch

Der Kippenautomat neben dem Kaffee Klatsch. Deutungen sind frei, aber Weltanschauung spielt selbst hier die entscheidende Rolle…

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Kippen + Weltanschauung

Bemerkenswert war, dass Wiesbaden sowohl einige der größten Staatsfeinde als auch deren oberste Verfolger beheimatete: hoch über der Stadt residiert in der Siedlung Eigenheim seit der Nachkriegszeit das Bundeskriminalamt. Ich erlebte die Zeit als dramatischen Machtkampf des Staates mit aufbegehrenden Gewalttätern. Mein Vater war Bundesbeamter. Wir wohnten in einer Dienstwohnung nur wenige Meter vom Bundeskriminalamt entfernt. Die jahrelange Herausforderung des Staates hatte eine Gefahrenlage bewirkt, in der das BKA erheblich nachgerüstet und erweitert wurde. Mein Vater war schon tot. Aber einige seiner Freunde waren bei der Polizei und im BKA tätig. Mit dem Aufkommen des RAF-Terrorismus war das Amt nach und nach immer mehr hochgerüstet und erweitert worden.

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Ein Winkel der Befestigungsanlage des BKA

Der Terrorismus der RAF hat meine Kindheit und Jugendzeit durchzogen. Unter dem RAF-Terror wurde auch die gesamte Wohnsiedlung rund ums BKA unter Objektschutz gestellt. Zeitweise patrouillierten Panzerwagen Tag und Nacht. Schon als Minderjähriger trug ich immer einen Ausweis, um bei Kontrollen ohne Probleme nach Hause zu gelangen. Das BKA wurde ringsum mit Sicherzeitszonen, Infrarot-Kameras und Sensoren umbaut.

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Wohnen in der Sicherheitszone des BKA

Der Kriminaldirektor Heinz Günter Zimmermann war einer unserer engsten Freunde. Jedes Jahr in der Weihnachtszeit feierten unsere Familien in seiner Dienstwohnung in der Thaerstraße 4 Geburtstag. Der Geburtstag Zimmermanns war Anlass, dass sich andere einflussreiche Leute und Kollegen seines Vertrauens traditionell einfanden und über die Lage im Land sprachen. Das Gespräch stand immer unter dem Siegel höchster Vertraulichkeit. Beim Aufkommen des RAF-Terrorismus war ich schon Jugendlicher und durfte teilnehmen.

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Thaerstraße 4 - eine unauffällige Wohnung

Diese Abende hatten immer einen besonderen Höhepunkt: der Präsident des Bundeskriminalamtes kam immer vorbei, nicht nur zur Gratulation, sondern gerade um an diesen vertraulichen Gesprächen teilzuhaben. Seinem Aufkreuzen ging immer die Absicherung des Zugangsweges durch bewaffnete zivile Kripo-Beamte voraus. Dann kam er, Horst Herold in Person. Es wurde eng in der Wohnung. Bei Cognac und Zigaretten wurde diskutiert. Das nachfolgende Video ist ein Ausschnitt aus der Verfilmung von Stefan Austs Buch-Dokumentation “Der Baader-Meinhof-Komplex” mit Bruno Ganz in der Rolle des BKA-Präsidenten Horst Herold. Genau so habe ich Herold aus den damaligen Begegnungen tatsächlich in Erinnerung.

Einmal stellte Zimmermann die Umstände zur Diskussion, unter denen der geheimnisumwitterte Geheimagent Werner Mauss als privater Ermittler vom BKA unter Vertrag genommen wurde. Dabei wurde das ganze Szenario sehr kritisch erörtert, unter dem Mauss dort eingeführt wurde. Angefangen mit seiner Tarnung bei einem Visagisten in der Altstadt und seine dichte Perücke. Damit sein Tätigwerden und seine Person auch bei BKA-Beamten nicht bekannt würde, seien alle Beamten in ihren Büros eingeschlossen worden, was viel Widerspruch erntete. In den weihnachtlichen Gesprächen in der Wohnung Zimmermanns erlebte ich als Heranwachsender den Blick auf Staat und Gesellschaft aus der intimen Perspektive höchster Sicherheitsbeamter. Das nachfolgende Kurzvideo zeigt den Agenten Werner Mauss in Ausschnitten auf einer Mission im Vatikan.

Nach wie vor war ein untergetauchtes Trio verbliebener RAF-Alt-Terroristen mit erheblichen Straftaten aktiv. Im Februar 2024 kommt es nach mehr als 30 Jahren zu einem spektakulären Fahndungserfolg: Daniela Klette wurde in Berlin Kreuzberg gefasst.

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Daniela Klette ©BKA

Zurück ins Westend: hier existieren Ideologien und Weltanschauungen in Konkurrenz: den Gegensatz zu all den mehr oder weniger politischen Botschaften bilden bizarre Textstellen aus der Bibel, die seit Jahren die gesamte Stadt mit ihren Flächen, Plakatsäulen usw. überschwemmen. Selbst im Stadtwald auf den Höhenzügen finden sich die Runen-ähnlichen Bibeltexte, die den Betrachten zum Reich Gottes bekehren wollen.

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In mehr oder weniger zweckentfremdeten Wohnungen residieren mehr oder weniger seriöse Religionsgemeinschaften…

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Schmuddeliges Verwaltungsdomizil: von diesem Amt werden die Parallelgesellschaften verwaltet. Das war nicht immer so, in den 80er Jahren lebten hier Deutsche und Migranten durchaus integriert beisammen. Doch heute wirken die Verhältnisse zunehmend polarisiert. Nicht ohne Grund patroulliert die Polizei im Stundentakt durch das Viertel.

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Manche Vorgärten sind zu Szenekneipen umgewandelt worden. Je nach Gebietshoheit residiert hier entweder das hippe Justemilieu oder der harte linke Kern. Der “normale Bürger” bleibt zuhaus oder sucht sich Kneipen in weiterer Entfernung.

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Egal, mit wieviel Aufwand Häuser und Fassaden ansehnlich gemacht wurden, – die Syntax der Sprayer zieht sich wie ein Mehltau über alles und jedes. Sie macht alles gleich, nur gelegentlich sind noch Hassparolen und linke oder rechte Kampfbegriffe als solche zu erkennen. Einzig die Angewiesenheit auf Anonymität vor Staatsgewalt und Öffentlichkeit ist das verbindende Element.

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Die Ringkirche im Wiesbadener Westend, die in den Jahren 1892 bis 1894 errichtet wurde. Ihre bauliche, vor allem innere Anlage entspricht dem so genannten Wiesbadener Programm. Damit gemeint ist die Verabschiedung vom frontalen Verkündigungsprinzip der kirchlichen Botschaft. Stattdessen sollte Gleichwertigkeit hergestellt werden von Altar (Schrift), Kanzel und Orgel (Verkündigung) und Gemeinde, die aus gleichen Gründen im Kreis angeordnet ist. Das von daher reformierte und alle Teile der Gemeinschaft einschließende Modell scheint angesichts der heutigen Verhältnisse des Wiesbadener Westends an den Rand gedrängt, aber inhaltlich immernoch aktuell.

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Von außen ist die Ringkirche von beiden Seiten umspült vom fließenden Verkehr. Sie wirkt wie eine Insel in einem Stadtteil, in dem man das Herz zumindest suchen muss. Aber man sollte es suchen, allein schon wegen der noch erhaltenen, teils prachtvollen altstädtischen Architektur und den gemütlichen Winkeln.

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– Ende –

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Jörg Rehmann

Journalist - Autor

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